Wer spricht

Wer spricht, bestimmt

We spricht, bestimmt.

Wer spricht, bestimmt – Wie Sprache unsere Wirklichkeit prägt ist ein erzählerisches Sachbuch über die Macht der Sprache in Politik, Medien und Alltag. Es erzählt von der Kunst des Framing, vom Spin der Kommunikation, von der Kraft der Geschichten – und vom Schweigen.

Der Autor nimmt uns mit auf eine persönliche und gleichzeitig analytische Reise durch Reden, Debatten, Tweets, Plakate, Schulbücher und Schweigeminuten. In 24 Kapiteln entfaltet sich ein klug komponiertes Panorama: Wie entsteht Bedeutung? Warum überzeugen Geschichten oft mehr als Fakten? Und was macht es mit einer Gesellschaft, wenn ihre Wirklichkeit zunehmend erzählt – und inszeniert – wird?

Mit essayistischem Stil, literarischer Tiefe und einem Ich-Erzähler, der nicht von außen analysiert, sondern sich selbst befragt, lädt das Buch zum Mitdenken ein. Ohne erhobenen Zeigefinger, aber mit klarer Haltung.

Ein Buch für alle, die schreiben, lesen, zuhören – und wissen wollen, wie Sprache unsere Wahrnehmung, unsere Meinung und unser Miteinander formt. Und was wir dem entgegensetzen können.

Leseprobe:

Es war ein Montagabend, irgendwann Anfang der 2010er. Ich saß auf dem Sofa, die Tagesthemen liefen. Die Fernbedienung lag in meiner Hand, aber ich schaltete nicht um. Angela Merkel sprach. Oder war es Wolfgang Schäuble? Ich weiß es nicht mehr. Aber ein Satz blieb hängen: „Wir können nicht weiter für die Schulden anderer haften.“
Ich weiß noch, wie ich leicht genickt habe. Nicht aus Überzeugung – eher aus einem Reflex heraus. Als hätte mir jemand gerade eine Rechnung erklärt, und ich wollte zeigen, dass ich mitkomme. Es klang vernünftig. Maßvoll. Irgendwie erwachsen. Ein Appell an Gerechtigkeit, Verantwortung, Disziplin. Ich fühlte mich auf der richtigen Seite. Ohne zu wissen, welche das eigentlich war.
Ein paar Tage später saß ich mit Freunden in einer Bar, und das Thema kam wieder auf. Griechenlandkrise, Rettungsschirme, die übliche Mischung aus Politikverdrossenheit und Halbwissen, die Gespräche wie diese oft durchzieht. Ich weiß noch, dass ich den Satz wiederholte. Wortgleich. „Wir können nicht weiter für die Schulden anderer haften.“ Dieses Mal sagte ich „wir“ mit Nachdruck, als wäre es mein Satz. Meine Meinung. Meine Einsicht.
Niemand widersprach. Zwei nickten, einer runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Das Gespräch wanderte weiter. Irgendwas mit Benzinpreisen. Irgendwas mit Merkel. Und in mir blieb dieses kleine, unsichtbare Hochgefühl: Ich hatte etwas gesagt, das ankam. Ich hatte eine Haltung gezeigt, ohne zu polarisieren. Ich hatte – und das verstand ich erst viel später – eine Geschichte weitererzählt, die gar nicht meine war.
Erst Monate später stieß ich auf einen Essay, der die gängigen Deutungsmuster der Eurokrise untersuchte. Die Sprache, die Metaphern, die moralischen Untertöne. Ich las von „Sparzwängen“, von „schwäbischen Hausfrauen“, von „Disziplinierungsmaßnahmen“. Und mir wurde klar: Das war kein technischer Diskurs. Das war Erzählung. Politik als moralisches Drama, in klare Rollen gegossen: der fleißige Norden, der verschwenderische Süden, die verantwortungsvolle Mitte. Ich hatte Teil daran. Nicht als Autor. Als Übermittler.
Das war der Moment, in dem ich begriff, wie gefährlich ein einziger Satz sein kann.
Nicht, weil er lügt. Sondern weil er nicht mehr hinterfragt wird. Weil er so plausibel klingt, so vertraut, so vernünftig. Weil er – wie man so schön sagt – „etwas auf den Punkt bringt“, obwohl der Punkt meistens nicht das Problem, sondern das Ergebnis ist. Ein Satz, der wie eine Zusammenfassung daherkommt, ist oft die eigentliche Geschichte. Und wer die Geschichte zuerst erzählt, hat die Deutungshoheit.
Ich begann rückwärts zu denken. Wer hat diesen Satz zuerst gesagt? Wer hat ihn wiederholt? Warum fiel er in exakt dieser Form in dieser Nachrichtensendung? Ich fand keine endgültige Antwort. Aber ich entdeckte das Prinzip. Der erste Satz prägt. Er definiert, was gesagt werden darf – und was nicht. Er lenkt die Richtung, die Stimmung, die Fragen. Er ist das Rahmengerüst, an dem alles Weitere hängt.
Seitdem misstraue ich dem ersten Satz. Meinem eigenen ganz besonders.
Ich bin Autor. Ich schreibe. Ich erzähle. Und ich weiß, wie oft ich Sätze so baue, dass sie einsteigen, fesseln, führen. Das ist mein Handwerk. Aber seit jenem Abend, da ich einen fremden Satz zu meinem machte, frage ich mich: Wo beginnt meine Erzählung? Und wo erzählt jemand durch mich hindurch?
*
Rückblickend war es gar nicht der Satz selbst, der mich gepackt hatte. Es war das, was er implizierte. Die Geschichte, die unausgesprochen dahinterstand. Ich habe lange gebraucht, um sie zu erkennen. Aber irgendwann konnte ich sie wie ein Drehbuch lesen. Und da war sie: klar strukturiert, emotional aufgeladen, moralisch gerahmt. Held – Opfer – Feind.
Der Held: wir. Die Vernünftigen. Die Disziplinierten. Die, die gespart, geplant, gearbeitet haben. Das „wir“ war großzügig gemeint, inklusiv, national – aber auch irgendwie moralisch überhöht. Der Held war nicht nur wirtschaftlich stark, sondern auch edel, hilfsbereit, aber eben: endlich geduldig. Einer, der sich lange alles gefallen ließ – und nun zu Recht aufsteht.
Das Opfer: die Politik, die Bürger, das System, das angeblich überfordert ist. Das Opfer ist ambivalent. Mal ist es der Steuerzahler, mal die Bundesrepublik, mal die europäische Idee selbst. Das Opfer ist erschöpft. Es hat gelitten. Es wird benutzt. Es braucht Schutz.
Und der Feind? Der war ebenso klar wie diffus. Die „anderen“. Die, die zu viel genommen, zu wenig geleistet, zu lange getäuscht haben. Die, deren Lebensstil angeblich nicht zur Ordnung passt. Es war nie offen rassistisch, nie offen chauvinistisch – aber es war da. Das Missverhältnis, das Gefühl der Überlegenheit. Der Unmut, in Erzählform gegossen.
Ich erkannte: Der Satz, der mich so überzeugte, war nur die Fassade. Darunter lag ein dramaturgisches Gerüst. Eine Erzählweise, die so wirksam war, weil sie emotional funktionierte – nicht faktisch. Sie bot Orientierung, Schuldzuweisung, Identifikation. Und, vielleicht am wichtigsten: Sie verlangte nichts von mir. Nur Zustimmung.
Ich begann, ähnliche Muster überall zu sehen. Nicht weil ich sie suchte, sondern weil sie mir plötzlich auffielen. In Interviews, in Wahlkampfslogans, in Talkshows. Immer wieder dieselbe Struktur: Eine klare Ordnung von Gut und Böse. Ein Konflikt, der nicht gelöst, sondern bestätigt werden soll. Ein Publikum, das weniger informiert als gebunden wird.
Was mich am meisten erschreckte: Ich hätte es wissen können. Ich hatte Bücher gelesen über Propaganda, über politische Kommunikation, über Medienlogik. Ich wusste um die Kraft der Metapher, um die Macht der Wiederholung. Und doch war ich hineingetappt – nicht weil ich ungebildet war, sondern weil ich müde war. Und weil die Geschichte gut erzählt war.
Denn genau das ist ihr Trick: Sie schleicht sich nicht als Argument ein. Sie kommt als Gefühl, als Resonanz, als Echo vertrauter Muster. Sie sagt dir nicht, was du denken sollst – sie gibt dir das Gefühl, es selbst gedacht zu haben.
Ich begann, meine eigene Sprache zu überprüfen. Nicht mit dem Rotstift, sondern mit einer Art innerem Seismografen. Was transportiere ich, ohne es zu sagen? Welche Bilder schleichen sich ein, wenn ich von „Reformen“, von „Normalität“, von „den Leuten“ schreibe? Und: Welche Geschichten erzähle ich nicht?
Ich hätte mir gewünscht, ich hätte diese Struktur früher erkannt. Aber vielleicht war genau das nötig: Erst verführt zu werden, um die Mechanik zu begreifen. Es war keine intellektuelle Erkenntnis. Es war ein Erwachen – aus der eigenen Naivität.
Es ging nicht darum, dass der Satz falsch war. Es ging darum, dass er eine Geschichte transportierte, die ich nicht hinterfragt hatte. Und diese Geschichte war mächtiger als jedes Argument. Weil sie sich nicht als Argument ausgab – sondern als Selbstverständlichkeit.
Seitdem frage ich mich bei jedem ersten Satz, den ich höre – und bei jedem, den ich schreibe: Welche Geschichte liegt darunter? Und wer profitiert von ihr?